Dass man dem Nachbarn nicht an das Hauseck pinkelt, sagt einem schon der sogenannte gesunde Menschenverstand. In der Frage, wie man vermeiden kann, dem Mitmenschen Infektionserkrankungen zu übertragen, scheitert, so scheint es, der Menschenverstand mittlerweile immer öfter. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, diesbezüglich wird der gesunde manchmal zum kranken Menschenverstand.
Die Psychologie definiert, dass der gesunde Menschenverstand die Fähigkeit zur Einsicht sei, die jeder Mensch entwickelt, um mit dieser Fähigkeit schlüssige Entscheidungen auf der Grundlage von Logik und Vernunft zu treffen. Mit einem guten Urteilsvermögen würde man dann immer das Gemeinwohl finden und mit praktischem Sinn das Zusammenleben sicherstellen und erleichtern, feindliche Konflikte vermeiden und zum gemeinsamen Wohl beitragen.
Der gesunde Menschenverstand kommt von dem was Menschen gelehrt oder diktiert bekommen haben, und ist auch Ergebnis von eigenen Erfahrungen. Das bedingt natürlich, dass der gesunde Menschenverstand subjektiv beeinflusst ist, weil er Teil dessen ist, was individuell gesehen, gefühlt und erlebt wurde. Somit ist klar, dass jeder seinen eigenen Weg gehen kann, weil er Ereignisse erlebt, die denen anderer nicht annähernd ähneln.
Daher ist das, was für den einen logisch ist, für den anderen möglicherweise nicht sinnvoll. In der Erlebniswelt eines Dackels mag es also durchaus im Bereich des gesunden „Menschen“verstandes liegen, dem Nachbarn an das Hauseck zu pinkeln.
Ein gesunder Verstand trägt übrigens auch zur Arterhaltung bei. So kann der Verstand den Pinguin lieber ins Wasser fliehen lassen, während er der Gazelle den Fluchtweg vor dem Krokodil lieber aus dem Wasser heraus zeigt.
Da die natürlichen Feinde des Menschen mittlerweile weniger Haie, Löwen oder Krokodile sind, sondern unsichtbar in der Welt der Mikroben, nämlich bei Bakterien und Viren zu suchen sind, muss mittlerweile auch dem gesunden Menschenverstand zugerechnet werden, dass Strategien zur Vermeidung von Bakterien, Viren und Infektionserkrankungen zur Erhaltung von Art aber auch des Individuums notwendig sind.
Leider krankt der Menschenverstand dabei sehr oft: Jeder weiß, dass Händeschütteln Infektionen überträgt, tut es aber bei besonderen Anlässen trotzdem. Viren machen keinen Unterschied zwischen Freunden, Nahestehenden und Fremden – der (kranke) Menschenverstand leider schon: „Mein Partner kann keinen Virus haben!!“ Doch! Und schon ist es passiert. Wie oft ergibt sich bei Familienfeiern oder anderen Treffs der Dialog: „Hust, rotz, spotz“ – „ähm“ – „Brauchen’s keine Angst haben, denn ich bin geimpft!“ Ja schon, aber Grippe, Durchfall oder Schnupfen will der oder die Gegenüber ja auch nicht haben.
Eigentlich sagt einem ja der gesunde Menschenverstand, dass man nur in die Ellenbeuge niest, sich einen Mundschutz aufsetzt, mindestens, wenn man erkältet ist und dass man sich zu familiären oder sonstigen Essen nur getestet und asymptomatisch trifft.
Leider diagnostiziert man aber in letzter Zeit viel zu oft, dass der Menschenverstand krank ist und nur mit einer Unzahl von Verordnungen, Verfügungen und Gesetzen zu behandeln ist. Und auch die helfen und sichern das infektfreie Dasein, wie bei so vielem in der Medizin, niemals zu hundert Prozent. Genauso, wie die beste Hundedressur keinesfalls zu hundert Prozent verhindert, dass der Dackel nicht doch dem Nachbarn an das Hauseck pinkelt.
In diesem Sinne – bleiben Sie gesund!
PD Dr. Steinbigler
Chefarzt Innere Medizin - Kardiologie, Klinik Mindelheim