Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung

Von Herrn Chefarzt PD Dr. med. Hendrik Jünger

Die Pandemie hat das Leben verändert – für alle. Die meisten Diskussionen hierzu werden aus der Perspektive der Erwachsenen geführt. Kinder und Jugendliche sind allerdings von der Corona-Krise und ihren Folgen auf ganz andere Art betroffen und bedroht als Erwachsene.

Alte und vorerkrankte Menschen blicken berechtigt sorgenvoll auf die hohe Zahl an intensivpflichtigen Patienten in den Krankenhäusern und fragen sich, wie ihr Körper auf Sars-Cov-2 reagieren würde. Gesunde Kinder hingegen sind durch eine Infektion selbst nicht bedroht. Die Gefahr für einen schweren Verlauf einer Sars-Cov-2 Infektion mit erforderlicher Aufnahme in ein Krankenhaus ist bei Kindern extrem gering, insbesondere auch im Vergleich zu anderen Viruserkrankungen wie z.B. der Influenzagrippe. In Deutschland sind bislang sehr wenige, zumeist schwer und chronisch vorerkrankte Kinder an oder mit einer Sars-Cov-2 Infektion gestorben. Dies wird eindrücklich durch die in den nationalen Registern gemeldeten Daten belegt. Kinderärzte müssen dennoch immer häufiger stark verunsicherte Eltern beruhigen, wenn es um die Sorge vor einer Covid-19 Erkrankung bei den eigenen Kindern geht. Die Vorstellung und die Angst, dass die eigenen Kinder durch Krankheit und sogar Tod bedroht sind, zählt bekanntlich zu den schlimmsten Sorgen. Entsprechend gründlich und sensibel sollte mit Informationen hierzu umgegangen werden. Also nochmal: müssen Eltern von ansonsten gesunden Kindern Angst vor einer schweren Covid-19 Erkrankung ihres Kindes haben? Nein!

Dennoch: auch die Kinderkliniken kämpfen derzeit mit Pandemie-bedingten Problemen. Allerdings nicht wegen erkrankter Covid-19 Patienten, sondern aus anderen Gründen. Aufgrund von Hygienemaßnahmen können die Krankenhauszimmer nicht immer so belegt werden wie zuvor - dieses Problem war zu Beginn der Pandemie durch einen erheblichen Mangel an zur Verfügung stehenden Schnelltests besonders groß. Inzwischen hat sich genau wie auf den Erwachsenenstationen der bereits vor der Pandemie bestehende Pflegemangel aggraviert – bedingt durch lokale Infektionsausbrüche beim Personal und resultierende Quarantänemaßnahmen mit Schließung ganzer Stationen. Zudem gilt auch für die nicht primär von der Infektionsgefahr betroffenen Kinder an den Kliniken: verschiebbare Eingriffe und Untersuchungen werden soweit möglich abgesagt und aufgeschoben. Die Gefahr, als Arzt bei der Abwägung solcher Entscheidungen Fehler zu machen, steigt. Dennoch: Platzmangel gab und gibt es während der Pandemie in den meisten kommunalen Kinderkliniken aktuell nicht, v.a. weil die üblichen winterlichen Infektwellen bei Kindern bedingt durch Lockdown und Social distancing bislang ausgeblieben sind.

Kinder und Jugendliche sind also im Gegensatz zu alten Menschen von der Infektion mit Sars-Cov-2 körperlich kaum bedroht, gleichzeitig wirken sich die aktuell entschiedenen Pandemie-Maßnahmen aber in einem erheblichen Ausmaß auf das Befinden der Kinder aus. Bei der erneuten flächendeckenden Schließung von Kitas und Schulen wurde der gemeinsame Appell der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und des Deutschen Lehrerverbands ebenso wenig berücksichtigt wie die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie. Letztere beruft sich auf eine umfassende Datenanalyse der Europäischen Gesundheitsbehörde ECDC, die am 23.12.20 veröffentlicht wurde. Daraus geht hervor, dass Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen nach aktuellem Wissensstand selbst keine Treiber der Pandemie sind. Unter den kinderärztlichen Verbänden besteht entsprechend weitgehende Einigkeit darüber, dass Schulschließungen nur das letzte Mittel sein dürfen. Um die Risiken so gut wie möglich kontrollieren zu können, wurden detaillierte Vorschläge zum Infektionsschutz an Schulen durch ein stufenweises Hygienekonzept unterbreitet. Dass ein solcher Weg erfolgreich sein kann, hat sich in Frankreich gezeigt. Dort verordnete die Regierung einen extrem strikten Lockdown, entschied sich aber dafür, sämtliche Kitas, Kindergärten und Schulen geöffnet zu halten. Die Neuinfektionszahlen sanken trotz offener Schulen innerhalb eines Monats von 50.000 auf rund 10.000 Neuinfektionen am Tag.

Anders als im Nachbarland sind in Deutschland trotz anders lautender Ankündigungen nach der ersten Welle die Schulen wieder flächendeckend und vollkommen unabhängig vom lokalen Infektionsgeschehen zu. Neben den Schulschließungen haben die mit Beginn des Jahres noch strengeren Kontaktbeschränkungen dazu geführt, dass Kinder kaum noch Kontakte zu Gleichaltrigen haben mit der Folge von sozialem Rückzug und Isolation. Jugendämter berichten von erheblich zunehmendem innerfamiliären Druck und der erhöhten Gefahr von Kindswohlgefährdungen. Betroffen sind auch in diesem Fall vor allem sozial schwächere Familien. Jeder Kinderarzt kennt Familien, in denen Kinder aktuell ohne Spielsachen und Bücher auf engstem Raum ganztags zu Hause sind. Nicht selten sind Eltern auch deswegen mit der neuen Situation überfordert, weil die Kinder zuvor seit langem ganztags in Gemeinschaftseinrichtungen „versorgt“ waren. Wenn dann noch die Jobsicherheit und das Einkommen in Gefahr ist, ergibt sich so auf engstem Raum eine explosive und gefährliche Mischung.

Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass Schulen und Kitas für Kinder „systemrelevant“ sind. Vernachlässigte und sich selbst überlassene Kinder sind aktuell besonders gefährdet, weil ihre sozialen und medizinischen Probleme nicht wie sonst in Gemeinschaftseinrichtungen erkannt werden. Und: die Schule ist für alle Kinder und Jugendlichen nicht nur ein Ort der Ausbildung, sie ist ein Teil ihres Lebens und essentiell für die psychosoziale Entwicklung.

Kinder und Jugendliche sind derzeit eine zweite, nur unzureichend erkannte
„Risikogruppe“, die in der aktuellen Diskussion nicht für sich selber sprechen kann. Zum Glück geht es hier nicht um Leben und Tod, dennoch sollten alle Einschränkungen, die Kindern aktuell auferlegt werden, nur auf einer fundierten wissenschaftlichen Basis erfolgen. Dies sollte auch angesichts des dringend erforderlichen Schutzes der Risikogruppe älterer Menschen nicht in Vergessenheit geraten.

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