Viele Menschen fürchten, bei schwerer Krankheit oder am Ende des Lebens einer Apparatemedizin unterworfen zu sein und gegen ihren Willen am Leben erhalten zu werden. Solchen Bedenken tritt die neue Ethik-Charta des Klinikverbundes Kempten-Oberallgäu entgegen. Dabei handelt es sich um ein Leitpapier, das vom Klinischen Ethikkommitee erarbeitet wurde. Ein solches hat sich bisher erst an wenigen Krankenhäusern etabliert. Unterzeichnet wurde es von den Kliniken-Geschäftsführern Andreas Ruland und Michael Osberghaus, den Ärztlichen Direktoren, Pflegedienstleitungen sowie von Mitgliedern des Klinischen Ethikkomitees. Das Werk ist an moralische Prinzipien gebunden und gibt Ärzten wie Pflegekräften Orientierung in einem schwierigen Handlungsfeld.
Zudem fördert die Ethik-Charta einen respektvollen Umgang der Klinikmitarbeiter untereinander und somit eine gemeinsame, vertrauensfördernde Wertekultur. „Unser oberstes Ziel ist es, die Bedürfnisse schwerkranker oder sterbender Patienten auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene wahrzunehmen und darauf mit ethischer Verantwortung zu reagieren“, erläutert Prof. Dr. Rolf Kern. Der Chefarzt der Klinik für Neurologie ist Vorsitzender des Ethik-Komitees, das im Jahr 2008 gegründet wurde.
Seit 2017 ist das Komitee mit 24 Mitgliedern aus unterschiedlichen Berufsgruppen übergreifend an den vier Standorten des Klinikverbundes tätig: Kempten, Immenstadt, Sonthofen und Oberstdorf. Zu den Kernaufgaben zählt die individuelle ethische Fallberatung auf Grundlage der medizinethischen Grundprinzipien Autonomie, Nichtschaden, Fürsorge und Gerechtigkeit. Ziel solcher ethischer Falldiskussionen ist es, gemeinsam mit dem therapeutischen Team die aus medizinischer und ethischer Sicht beste Lösung für die individuelle Situation eines Patienten zu erarbeiten.
Hoher Stellenwert
„Ethische Verantwortung hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert“, unterstreicht Resi Steiner, Vorstands- und Gründungsmitglied des klinischen Ethik-Komitees. Denn die medizinischen Möglichkeiten würden zunehmend komplexer. Auch nehme die Anzahl älterer Patienten mit Mehrfacherkrankungen stetig zu. Parallel zu diesen Gegebenheiten steige das Spannungsfeld, in dem sich Menschen am Lebensende, ihre Angehörigen und die medizinischen Fachkräfte nicht selten befinden. „Zwar steht die Autonomie des Patienten an erster Stelle. Jedoch wird es oft schwierig, wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden“, sagt Dr. Ronald Treiber, Chefarzt der Reha-Klinik Allgäu Sonthofen und Vorstandsmitglied des Ethik-Komitees. Jeder, der in einem Gesundheitsberuf arbeite, wolle den ihm anvertrauten Patienten Gutes und vor allem das Richtige tun. Jedoch stelle sich im klinischen Alltag in heiklen Situationen oft die Frage: „Was ist richtig und ist es prinzipiell richtig, immer alles zu tun, was wir aus medizinischer Sicht tun können?“ Fest stehe, so Prof. Kern, „dass wir zum Wohl des Patienten handeln und nicht aus wirtschaftlichen Interessen.“ Dank der neuen Ethik-Charta fühlten sich alle Beteiligten nun sicherer im Sinn eines gemeinsamen werteorientierten Handelns: „Es ist erfreulich, dass zentrale ethische Werte für die stationäre Versorgung von Patienten sowie in der Mitarbeiterführung nun ein fester integraler Bestandteil unseres Krankenhaus-Managements sind.“
Unterschiedliche Einschätzungen
Insbesondere am Lebensende stehen Ärzte und Pflegekräfte genauso wie Patienten und Angehörige vor ethischen Herausforderungen. Je nach individueller Perspektive kann eine Behandlung als sinnvolle Lebensverlängerung oder als leidvolle Sterbeverhinderung bewertet werden. Prof. Kern: „Bei dieser Bewertung gibt es kein objektives Richtig oder Falsch, sondern nur unterschiedliche Einschätzungen.“